Eines der Dinge, die ich sehr schätze, sind Notizbücher. Darin schreibe ich nicht nur, sondern klebe auch Fotos und allerlei Papiere ein. Als Erinnerung – und damit die Hefte interessanter aussehen. Klar, wenn ich gerade keine Hand frei habe oder die Zeit knapp ist, diktiere ich kurze Texte auch in mein Telefon. Ich mag all die elektronischen Funktionen und unendlichen Möglichkeiten. Doch ganz in Ruhe mit einem Stift auf echtes Papier zu schreiben, ist mir dennoch das Höchste. Die Gedanken fließen entspannt, die Verbindung zwischen Augen, Gehirn und Hand schult meine kognitiven-motorischen Fähigkeiten und ganz nebenbei entschleunige ich meinen Lebensrhythmus. Nachteilig ist allerdings mein schwerer Rucksack, in dem ich mindestens drei Notizbücher mit mir herumtrage (eines für das aktuelle Buch, eines für das zukünftige Buch und eines für private Eintragungen). Penibel notiere ich jede Begegnung, alle Ereignisse. Es ist mir zur Gewohnheit geworden, vieles zu beschreiben. Auf diese Weise vergesse ich nichts und reflektiere sofort. Oft ergeben sich daraus Fragen, die ich dann noch klären kann. Außerdem reise ich mit offeneren Augen durch die Welt, weil sich in meinen Notizbüchern alles und jedes miteinander verknüpft.

Foto: tos
Wen wundert es, dass ich dafür eine Menge Stifte benötige. Gerne würde ich mit einem Füllfederhalter schreiben. Aber leider hat sich das als unpraktisch erwiesen. Bei Feuchtigkeit verläuft die Tinte und manchmal schmiert er durch die vielen Bewegungen im Rucksack. Meine Finger waren ständig hellblau. Eines Tages kaufte ich mir deshalb einen recht einfachen Kugelschreiber mit austauschbarer Mine. Eine Mine steckte bereits im Stift, zwei Ersatzminen gab es dazu. Von Anfang an war ich mit dem Stift zufrieden: Sein silberner Metallkörper liegt gut in meiner Hand, er lässt sich leicht und sauber über das Papier führen.
Bei einem Vielschreiber wie mir dauerte es natürlich nicht lange, bis ich die erste Ersatzmine einlegen musste. Kein Problem, ich hatte ja noch eine weitere. Trotzdem nahm ich mir vor, bei Gelegenheit einen kleinen Vorrat anzulegen. Also ging ich ein paar Wochen später in das Geschäft, in dem ich den Stift gekauft hatte und fragte nach Minen. „Nein“, sagte die Verkäuferin, „die führen wir nicht.“ Ich stutzte. „Wo kann ich die Mine sonst bekommen?“ Die Verkäuferin zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Bei uns jedenfalls nicht.“ Enttäuscht verließ ich den Laden. Was nützt ein Stift mit austauschbarer Mine ohne – Minen zum Tauschen? Aber gut, sagte ich mir, da ich viel unterwegs bin, werde ich irgendwo passenden Ersatz finden. Einstweilen habe ich ja noch zwei Minen.
Wir lieben schlechte Nachrichten
Kurze Zeit später muss ich beruflich nach Baden-Württemberg. Mit dem Zug fahre ich nach Stuttgart. Erste Überraschung: Der ICE ist pünktlich. Unerwartet. Es wird so viel über die Unzuverlässigkeit der Bahn berichtet, dass ich nicht nur erstaunt, sondern fast wütend bin. Wie kann der Zug ausgerechnet bei mir pünktlich fahren? Verdammt, denke ich, nun kann ich mich nicht am Bahn-Bashing beteiligen. Doch schon beim Einsteigen beruhige ich mich. Was ist los mit mir? Während ich im Bordrestaurant allein an einen Einzeltisch Platz nehme, frage ich mich ernsthaft, ob negative Stimmung ansteckend ist – gerade als sich eine Maske tragende Frau mit möglichst weitem Abstand von allen anderen Gästen auf eine Bank zwängt. Pandemie Relikt oder Schutz vor dem Stimmungstief? Ich lächle in mich hinein.
Bald stelle ich fest, dass ich auf dem falschen Platz sitze. Der Restaurantchef bittet mich freundlich, zu wechseln. Dafür spendiert er mir auf Kosten der Bahn einen Tee. Leider ohne Zitrone. An meinen alten Tisch setzt er sich mit seinen Kollegen. Kurz vor Stuttgart gibt es für das Personal nichts mehr zu tun. Sie plaudern und erzählen sich gegenseitige ihre Erlebnisse auf der Schiene. Ich höre ihnen zu und erfahre von Messerattacken auf Zugbegleiter, unverschämten Fahrgästen, einer chaotische Einsatzplanung und alltäglichem Wahnsinn bei der Logistik. Die Menschen sind müde nach einer hektischen Schicht und haufenweise Überstunden. Aber ist das der alleinige Grund für ihre horrenden Geschichten? Ich erinnere mich an Ergebnisse aus der Hirnforschung, die besagen, dass unsere Gedanken vor allem auf Gefahren achten, um uns rechtzeitig zu warnen, während das Schöne und Positive eher in den Hintergrund unserer Wahrnehmung treten. Heute ist diese Art Gehirnprogrammierung zwar nicht mehr unbedingt notwendig, weil uns höchstwahrscheinlich kein Säbelzahntiger an der nächsten Ecke auflauern wird, doch die Evolution arbeitet behäbig und hält nicht Schritt mit der schnelllebigen menschlichen Gesellschaft. Deshalb lieben wir schlechte Nachrichten.
Wir schwätzen alle zu viel
Übrigens nicht nur schlechte Nachrichten, sondern auch leidenschaftlich Klatsch und Tratsch. Davon lebt eine ganze Branche. Illustrierte befriedigen das Interesse an kleinen Anekdoten und großen Dramen. Ihr Metier sind emotionale Geschichten. Sie machen Prominente zu engen Nachbarn, die hinter der Gardine ausgespäht werden. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari behauptet in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ gar, Klatsch und Tratsch sei der hauptsächliche Grund, weshalb sich menschliche Sprache überhaupt entwickelte. Castingshows und ähnliche Formate im Fernsehen scheinen seine Annahme zu bestätigen. Die Zuschauer bekommen nicht genug von überdrehten Aktionen, peinlichen Gesprächen und tränenreichen Geständnissen. Das sogenannte Trash-TV erzielt beachtliche Einschaltquoten.
Was macht das mit einem Land, das seit Jahrzehnten stolz auf sein Qualitätslabel „Made in Germany“ ist und sich seiner besonderen Kompetenzen in bildungsintensiven Technologien rühmt? Vielleicht ist Deutschland eine Dienstleistungswüste, aber auf Wissenschaft und Forschung können wir bauen. Oder? Als der Zug bremst und in den Stuttgarter Bahnhof einfährt, erinnere ich mich an eine Episode am Frankfurter Flughafen. Ich wartete darauf, einzuchecken und beobachtete zufällig einen Piloten, der vergeblich versuchte eine Tür zu öffnen, die mit einem Zahlenschloss gesichert war. Immer wieder drückte er die Tasten und stets leuchtete ein rotes Licht auf. Erst eine Stewardess aus seiner Crew knackte schließlich den Nummerncode mit der richtigen Ziffernfolge und öffnete die Tür. Mir klingen die Worte des Zugbegleiters im Ohr, der auf meine Frage, wie sein Job denn so sei, mit einem leichten Augenzwinkern antwortete:
Glauben wir Walter Benjamin, der 1940 auf seiner Flucht vor den Nazis entweder Selbstmord beging oder ermordet wurde – passend zu seinem abenteuerlichen Leben zwischen Chaos, Genialität und Armut – ist Sprache kein Mittel, anderen Menschen verwertbare Informationen mitzuteilen, sondern ein Medium, in dem der Mensch sich selbst und aller ihn umgebenden Dinge gewahr wird, sie und sich selbst also nennend erkennt. Aus Sicht von Benjamin und übrigens auch dem Philosophen Ludwig Wittgenstein, schwätzen wir alle viel zu viel. „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, schrieb Wittgenstein und meinte es auch so. Sprechen können wir mit unserer ungenauen Sprache so gut wie über gar nichts. Doch wir teilen uns fortwährend mit und erzeugen dabei ein Missverständnis nach dem anderen. Ungefähr so, wie die amerikanischen Ingenieure den Stand ihrer Raketenforschung Anfang der 1960er Jahre beschrieben. „Am Ende explodieren sie doch alle!“
Ein Hoffnungsschimmer
Nun leben wir inzwischen im Jahr 2025 und ich begebe mich in Stuttgart auf die Suche nach meiner Ersatzmine. Vergebens. Kein Geschäft führt sie. Teilweise geben sich die Verkäuferinnen wirklich Mühe, probieren verschiedenste Marken. Ohne Chance. Manche reagieren ungehalten, anderen tut es sichtlich leid. Diese Reaktionen erlebe ich auch in weiteren Bundesländern: Niedersachsen, Hamburg, Hessen. Meine letzte Mine neigt sich schon dem Ende entgegen und ich finde noch immer keinen Ersatz. Dann endlich ein Hoffnungsschimmer: Ein kleines Geschäft in Lübeck, Schleswig-Holstein, gibt mir den entscheidenden Hinweis: Die Mine, die ich benötige, steckt in einem billigen Einwegstift und lässt sich dort herausnehmen. Ich muss also nur solche Stifte für 75 Cent das Stück kaufen und die Plastikhüllen entsorgen. Was für eine Materialverschwendung, aber was soll’s, immerhin kann ich meinen eigenen Stift weiterverwenden. Also ein Deal? Eigentlich schon, nur hat das Geschäft die richtigen Stifte nicht vorrätig. “Wir bestellen aber gerade”, meint die Verkäuferin. “Fragen sie in 14 Tagen nach.” Das wäre doch eine Punktlandung.
Zwei Wochen später kehre ich mit meiner Großbestellung von immerhin zehn Stiften zurück. Der Vorrate an Minen ist es mir wert, das Material der überflüssigen Stifte zu verschwenden. Ich spreche die Verkäuferin an, sie schaut nach, erschreckt und schüttelt bedauernd den Kopf: “Entschuldigen sie, da hat jemand eine andere Marke geordert. Wir bestellen erst wieder, wenn die 1000 Stück verkauft sind.” Das dauert wie lange? “Ich weiß nicht, ein bis zwei Jahre vielleicht.” Ich erinnere mich an den Bahnmitarbeiter und seine Bemerkung: “Ich arbeite halt bei der Bahn.” Ein Lächeln huscht über mein Gesicht und ich denke: